Update 15-9-2014
uit: *Ein Nachrichtenblatt* Nr. 17/2014
Textinterpretation des „Selbstzeugnisses“ Judith v. Halles
In Sergej. O. Prokofieffs Buch „Zeitreisen – ein Gegenbild anthroposophischer Geistesforschung“ stieß ich auf S. 15 zum ersten Mal auf den Text, den J. v. Halle in einem Rundbrief vom September 2004 an die Vertreter der Deutschen Arbeitszentren der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, an den Vorstand und an das Hochschulkollegium am Goetheanum sandte. Sergej Prokofieff nennt diesen Text das „Selbstzeugnis“ J. v. Halles. Manche sind der Ansicht, um die Aussagen J. v. Halles prüfen zu können, brauche man ihre Art der Wahrnehmung oder müsse „helsichtig“ sein. Ich denke aber, man kann sie auch mit dem Verstand prüfen! Ich habe diesen Text von J. v. Halle mit den Mitteln geprüft, die mir zur Verfügung stehen: Mit meiner praktischen Vernunft und den herkömmlichen Methoden der Textanalyse. Die Ergebnisse sind so aufschlussreich, dass ich sie einem größeren Kreis mitteilen möchte.1. und 2. Satz des „Selbstzeugnisses“:
„Schauen Sie bitte nicht mich als einen Menschen an, an dem ein schier unerklärliches Wunder wirkt. Bitte schauen Sie auf die geistigen Tatsachen, die diesem Phänomen zugrunde liegen…“
Der erste Satz soll bescheiden wirken, ist aber tatsächlich ein als Bitte formulierter, verneinter Imperativ. Verneinte Imperative haben die Eigenschaft, dass sie das Gegenteil bewirken können, als das, was sie scheinbar fordern. Die Wortwahl des zweiten Satzes ist Anthroposophen sehr vertraut: „Schauen auf geistige Tatsachen, die zugrunde liegen.“ Durch solche Formulierungen weist sich die Sprecherin als eine Person aus, die mit der Sprechweise von Anthroposophen vertraut ist. Sie will damit Vertrauen wecken.3. und 4. Satz:
„Jede Darstellung über die Ereignisse soll nicht meine Person in den Vordergrund rücken. Da sich diese Ereignisse an mir vollziehen, sind sie mit meinem Wesen verknüpft…“
Im 3. Satz gibt sich die Urheberin des Textes wieder bescheiden: Nicht „ihre“ Person, soll in den Vordergrund gerückt werden. Aber diese vorgeschobene Bescheidenheit wird durch den 4. Satz aufgehoben, in dem sie behauptet, dass „diese Ereignisse“ (gemeint ist die Stigmatisation und ihre Nahrungslosigkeit) mit ihrem Wesen verknüpft seien. Sie benutzt das Possessivpronomen. Der Begriff „Verknüpfung“ weist auf eine enge, unfreie Verknotung hin, die fester ist, als eine Verbindung. Eine Verbindung wird freiwillig eingegangen, eine Verknüpfung enthält etwas Unfreies, Passives. Sie stellt es wie eine unbezweifelbare „geistige Tatsache“ hin, dass das Erscheinen von Stigmata (sie umschreibt es mit „Ereignisse“) an einem Menschen auf eine Verknüpfung desselben mit Christus hinweisen müsse. Aber ist das wirklich so? Könnten diese „Ereignisse“ nicht auch andere Gründe haben?5. Satz:
„Doch ist es stets Christus selbst, der Sie ganz persönlich – in Liebe – anspricht, wenn Sie sich mit diesem Stigmatisations-Ereignis auseinandersetzen, das innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft aufgetreten ist, indem Er durch Seine Gnade, durch die Lenkung und Stützung Ihres Karmas, Sie selbst zu Zeugen werden lässt von Seinem Gang durch die Erdenwelt, von Seiner Authentizität, von Seiner Allgegenwart.“
Der 5. Satz ist eine Behauptung, die man sich ganz genau anschauen sollte: Es handelt sich um einen umgestellten Konditionalsatz – also einen „Bedingungssatz“, der, wenn man alle verschleiernden Stilmittel weglässt, lautet: „Wenn Sie sich mit diesem Stigmatisations-Ereignis…. auseinandersetzen…, dann ist es stets Christus selbst, der Sie ganz persönlich – in Liebe – anspricht…“Man betrachte diesen Konditionalsatz einmal ganz genau: Aus diesem Konditionalsatz kann man einen Finalsatz ableiten: Man soll sich mit J. v. Halle und dem, was an ihr geschieht, beschäftigen, damit Christus einen „persönlich“ und „-in Liebe-“ anspreche? Man lese im Neuen Testament nach, wie es ist, wenn Christus einen Menschen persönlich anspricht, z.B. Lukas 19,5, wenn Christus Zachäus, den Zöllner, persönlich anspricht oder Joh. 21,15-22, wenn Petrus von Christus persönlich angesprochen wird. Das ist direkt, ohne Mittler. Es besteht ein wesentlicher Unterschied, ob ein Mensch sich von Jemandem persönlich angesprochen fühlt oder ob er tatsächlich von Jemandem persönlich angesprochen wird! Doch dieser Unterschied wird im Selbstzeugnis nicht deutlich. Der Text des „Selbstzeugnisses“ lässt im Unklaren, wie das „persönlich Angesprochen-Werden“ gemeint ist. Ich kann mich sehr wohl von einem Gedicht persönlich angesprochen fühlen, obwohl der Dichter schon seit 200 Jahren in der Geistigen Welt ist. Aber spricht mich dann der Dichter selbst persönlich an? Natürlich nicht. Die nachfolgenden, durch Komma abgetrennten Nebensätze enthalten noch aneinandergereihte Aussagen, die etwas verwirren: Es sei Gnade und ein Zeichen eines außergewöhnlichen, von Christus gelenkten Karmas, wenn die Angeschriebenen J. v. Halle als „Zeugin“ wahrnehmen und in ihr „Seinen Gang durch die Erdenwelt“ erkennen dürften. Sie benutzt manipulative Stilmittel wie das klassische Publikumslob: „Sie selbst zu Zeugen werden lässt“ und die Akkumulation der großgeschriebenen Possessivpronomina. Menschen, die ihren Text ungenau lesen, können durch diese suggestiven Stilmittel dazu verleitet werden, zu glauben, dass Christus durch sie spreche – wie durch eine Art Mittel – wodurch all ihre Aussagen bei ihren „Gläubigen“ eine enorme Autorität bekämen.Vorsicht ist da geboten. Franz von Assisi, der ebenfalls Stigmata trug, hat niemals einen solchen Anspruch erhoben.Einige gedankliche Anmerkungen zum Schluss: Der Text ist manipulativ und suggeriert, J. v. Halle sei eine Art „Werkzeug“, durch das Christus die Menschen anspreche. Sie erhebt einen messianischen Anspruch. J. v. Halle fordert zwar nicht expressis verbis „Glauben“, doch indem sie an die „Zeugenschaft“ der Leser appelliert, appelliert sie an ein unmittelbares Für-Wahr-Halten, ohne dass die selbsttätige Erkenntnistätigkeit mit einbezogen wird. In der Philosophie der Freiheit heißt es im Kapitel III „Das Denken im Dienste der Weltauffassung“ auf S. 39 unten: „Der Inhalt von Empfindungen, Wahrnehmungen, Anschauungen, die Gefühle, Willensakte, Traum- und Phantasiegebilde, Vorstellungen, Begriffe und Ideen, sämtliche Illusionen und Halluzinationen1 werden uns durch die Beobachtung gegeben.“1 Hervorhebung v. Verf. Wer an unmittelbare „Zeugenschaft“ appelliert, erwartet, dass man Beobachtungen für wahr hält, ohne dass diese Beobachtungen durch das Denken überprüft werden. In der Philosophie der Freiheit wird beschrieben, wie die Menschen zur fortwährenden Richtigstellung ihrer Beobachtungen gebracht werden, wenn neue Beobachtungen hinzukommen, die den alten widersprechen. Als Beispiele bringt er das Kind, das nach dem Mond greift, weil es noch nicht weiß, wie weit er entfernt ist oder die neuen Himmelsbeobachtungen durch die Erfindung des Fernrohrs, was zur Ersetzung des geozentrischen Weltbildes durch das heliozentrische Weltbild führte. Im Selbstzeugnis J. v. Halles ist es jedoch allein das „Zeuge-Werden“, das Erkenntnissicherheit geben soll. Zeugenschaft in diesem Sinne ist ein Glaube, den man der wahrgenommenen Sache als einer, die sich selbst als wahr ausspricht, entgegenbringt, doch tut man das nicht aktiv prüfend, sondern passiv-empfangend, denn der Zeuge gibt nur wieder. Bei manchen Erkenntnisgegenständen ist dies ein erstes, mögliches Verhältnis zum dargestellten Wahrnehmungsinhalt, z. B. bei einem Verkehrsunfall: Durch Zeugenschaft wird der Versuch unternommen, den Vorgang zu rekonstruieren. Nach der gründlich überprüften Zeugnisaufnahme folgt die Beurteilung, sie stellt das Verhältnis zwischen den Bestandteilen der Beobachtungen her. Das Zeugnis allein liefert nämlich Beobachtungen, nicht Erkenntnis. Erkenntnis tritt erst ein, wenn der Beobachtung durch das Denken der Begriff hinzugefügt wird, doch das fordert J. v. Halle nicht, da sie zum unmittelbaren „Für-Wahr-Halten“ durch Zeugenschaft auffordert. Den Begriff empfangen wir aber von innen. „Der Erkenntnisakt ist die Synthese von Wahrnehmung und Begriff. Wahrnehmung und Begriff eines Dinges machen aber erst das ganze Ding aus.“, schreibt Rudolf Steiner in der Philosophie der Freiheit im fünften Kapitel. Manche ihrer Anhänger sehen in J. v. Halle die Trägerin des „Phantoms“ und begehen damit eine denkerische Inkonsequenz und stehen nicht auf dem Fundament der „Philosophie der Freiheit“, denn sie schließen von einer Beobachtung auf einen Begriff („Trägerin des Phantoms“), bemerken aber nicht, dass sie die Wahrnehmung gar nicht mit einem unbefangenen Denken durchdringen, sondern traditionelle und christlich-esoterische Deutungen herangezogen haben, die besagen, dass das Auftreten von Stigmata und Nahrungslosigkeit unzweifelhaft auf eine „Verknüpfung“ mit Christus hinweise. Es wird so getan, als ob ein anderer Schluss gar nicht möglich wäre. Ich möchte auf die Evangelien verweisen, z. B. Markus, 13,21-23 aus der Übersetzung von Emil Bock: „Und wenn dann jemand zu euch spricht: siehe, hier ist der Christus, siehe, dort ist er, so verschwendet darauf euer Vertrauen nicht. Denn es werden falsche Christusse und falsche Propheten erstehen, die sogar Zeichen und Wunder tun, um womöglich auch die zu verführen, in denen das höhere Sein schon lebt. Gebet also acht. Ich habe euch alles vorhergesagt.“Die Wahrheit braucht keine wundersamen Erscheinungen an ihren Vertretern, damit man sie erkennt! Anthroposophische Wahrheiten wirken durch sich selbst! Um sie zu erkennen, bedarf es einer Erweiterung der Erkenntnisfähigkeit und nicht des Glaubens an eine Autorität aufgrund wundersamer Erscheinungen. Anthroposophie ist auf Erkenntnis aufgebaut und nicht auf Glauben! Anthroposophie ist mit Rudolf Steiner verbunden!Nicht mit äußeren Zeichen und Wundern setzt sich der Anthroposoph auseinander, sondern er betrachtet die geistigen Inhalte nüchtern und unbefangen und prüft sie! Nicht aus einer Beobachtung allein gewinnen wir einen Begriff, sondern das Denken reagiert auf die Beobachtung und fügt ihr einen Begriff hinzu. (Philosophie der Freiheit). Aber ein Denken, das nicht unbefangen betrachtet, sondern sich in eine gewisse Richtung manipulieren lässt und vorgefasste, befangene Deutungen wie selbstverständlich übernimmt, ohne sie zu überprüfen, kann auch falsche Schlüsse aus einem beobachteten „Ereignis“ ziehen! Dann können Vorstellungen entstehen und sich im Bewusstsein der Menschen einnisten, die nicht der Wahrheit entsprechen.Glaube an Zeugenschaft ist keine Anthroposophie, sondern eine Art „Offenbarungsreligion“. Anthroposophie baut auf der „Philosophie der Freiheit“ und auf den Werken Rudolf Steiners auf! Die Philosophie der Freiheit beschreibt den Weg des Denkens und Erkennens! Der Glaube dagegen ist in der Religion zuhause. Schiller und Voltaire und andere Freiheits-Philosophen haben den autoritativen Glauben bekämpft, der sich doch nur durch „geistige Autoritäten“ auslebt und in Bevormundung ausartet. Wenn ein Mensch etwas auf Autorität hin glaubt und nicht, weil er selbst es als wahr erkannt hat, dann gleitet er in die geistige Unfreiheit!
Angelika Eberl
In hetzelfde *Ein Nachrichtenblatt* Nr. 17/2014, meer interessante bijdragen over JvH.
Was ist Geistesforschung – was nicht? – red
Anthroposophie: Denken als okkulte Kraft - statt Hellsehen – Roland Tüscher
Rudolf Steiner über Geistesforschung
Geisteswissenschaft, Fehlermöglichkeit und Überprüfung –Harald Johan Hamre
Zur Diskussion um Judith von Halle – Helmut Kiene
Textinterpretation des „Selbstzeugnisses“ Judith von Halles –Angelika Eberl (zie boven)
Vorstand der AAG - «Unterschiedliche Auffassungen in geistigen Fragen» – rt.
Stufen des Weges zur Wertschätzung – Ronald Templeton
Überkommene mystische Erkenntnisart oder anthroposophische Erkenntnis? – Herwig Herrmann (zie boven 3-10-2014)
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