Judith von Halle
Interview von Michel Gastkemper
mit Judith von Halle
Das Gespräch ist vorgesehen zur Veröffentlichung
in der Zeitschrift Motief
Stichtse Vrije School in Zeist, Holland
am 19.10. 2014
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Interview von Michel Gastkemper mit Judith von Halle
am 19.10.2014
in der Stichtse Vrije School, Zeist, Holland
Michel Gastkemper = M G: Die Ausgangslage ist die holländische
Monatsschrift Motief der holländischen Gesellschaft. Die Auflage der Zeitschrift
Motief beträgt rund 4000 Exemplare.
Niemals in den letzten Jahren ist über Sie, Judith von Halle, geschrieben
worden, das ist merkwürdig, aber eine Tatsache.
Ju v Ha: Ja, das stimmt. Aber das liegt weitgehend an mir, jedenfalls, was
Interviews betrifft.
M G: In den Leserbriefen ist Ihr Name aber manchmal genannt und besprochen
worden. Das ist eine merkwürdige Situation. Ich hoffe dazu beizutragen mit
diesem Interview, Sie den Lesern unseres Blattes bekannt zu machen. Ich hoffe,
dass Sie etwas über sich erzählen können. Ich habe natürlich auch einige Fragen,
aber die stelle ich während des Gespräches.
Sie haben heute auch etwas über sich und ihre Jugend erzählt, aber ich weiß
nicht, was davon für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Darum frage ich jetzt:
Können Sie etwas über sich erzählen, wie Sie aufgewachsen sind, was Sie erlebt
haben, wie es so gekommen ist. Das ist eine schwierige Frage natürlich.
Ju v Ha: In Andeutungen habe ich das schon gesagt [heute Vormittag in dem
Vortrag über Glaube und Wissen]. Ich bin in einem nicht-anthroposophischen
Elternhaus aufgewachsen und anthroposophische Inhalte wurden mir nicht
vermittelt. Ich hatte ein sehr reges Innenleben. So lange ich zurückdenken kann,
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hatte ich eine Beziehung zu dem, was wir die geistige Welt nennen. Geistige
Welt sagt alles Mögliche aus, da kann man sich alles Mögliche darunter
vorstellen. Das ist damals nicht in einer konfessionell religiösen Weise gewesen,
sondern eine Erfahrung, die der Mensch machen kann mit übersinnlichen
Welten, und das habe ich als Kind sehr stark schon erlebt. Ich habe mir
deswegen recht früh viele Gedanken gemacht über die Welt, über die Menschen
in ihrem Zusammenhang; auch habe ich mir Gedanken gemacht, warum so
wenig Menschen die Wirklichkeit der geistigen Welt thematisieren. Das war
eine große Frage für mich als Kind, warum ist das ein Tabu?
Und habe dann bis zu meinem 25. Lebensjahr niemanden gefunden, mit dem ich
mich hätte austauschen können. Meine Begegnung mit Rudolf Steiner war
deswegen so berührend für mich und entscheidend für meinen Lebensgang, weil
ich dort auf Aussagen gestoßen bin über Dinge, die ich selber erlebt hatte. Das
war wie eine neue Geburt, und ich war dankbar, dass ich erfuhr: es gibt eine
ganze Gesellschaft, die sich um diese Inhalte bemüht. Es gibt also nicht nur
einen, der mutig war, davon zu sprechen, sondern viele Menschen, die sich
zusammenfinden, um das zu pflegen, was in meiner Kindheit keine Rolle spielte
im Äußeren.
M G: Aber die Begegnung war ein Buch. Ju v Ha: Ja natürlich. Ich bin Rudolf
Steiner in seinen Schriften begegnet. M G: Das ist natürlich etwas anderes als
der direkte Umgang durch Menschen.
Ju v Ha: Ja, ich habe etwas gelesen, was ich selber erlebt hatte. Und deshalb
war für mich klar, Rudolf Steiner ist der Richtige für mein weiteres Leben. Es
war eine unmittelbare Bestätigung meiner eigenen Erfahrungen. Natürlich ging
das noch viel weiter, was Rudolf Steiner alles aufgedeckt hat. Aber das, was ich
erfahren habe, das habe ich bei ihm wiedergefunden. Deswegen wusste ich: Das
ist es, wohin ich will.
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Dann habe ich angefangen, ich bin ja eigentlich Architektin im Beruf, ich arbeite
auch nach wie vor in dem Beruf, aber die Haupttätigkeit ist jetzt natürlich die
Anthroposophie. Viel später habe ich mich dann getraut, auch von meinen
inneren Erfahrungen zu berichten. Und die Stigmatisation und die Erlebnisse,
die sich daran angefügt haben, das ist noch etwas Zusätzliches. Aber das
Eigentliche, was ich heute Morgen Ihnen vorgelesen habe, nämlich die
Erforschungen des Geistigen, das hat mit der Stigmatisation nichts zu tun. Ich
bin durch die Stigmatisation nicht anders geworden, sondern was hinzugetreten
ist durch dieses Ereignis, waren tatsächlich Wahrnehmungen von Ereignissen,
die historisch geschehen sind wie in einer Chronik. Dies aufzufinden, war neu.
Das war für mich auch deswegen von besonderer Bedeutung, weil mir diese
Wahrnehmungen der historischen Ereignisse der Zeitenwende den Antrieb
gegeben haben, die geistigen Zusammenhänge hinter diesen historischen
Tatsachen geisteswissenschaftlich zu erforschen.
Ich glaube, wenn Sie das festhalten, würden Sie mir einen großen Gefallen tun.
Denn die Menschen sehen oft „nur“ die Stigmatisation und die ZeitenwendeWahrnehmungen,
nicht aber meine eigentliche, nämlich geisteswissenschaftliche
Arbeit und Aufgabe. Verstehen Sie, wie ich das meine? Ich mache
das noch einmal deutlich:
Man macht mir oft den Vorwurf – das ist die Kritik in der Hauptsache –, dass
der Inhalt meiner Vorträge und Bücher nur die Wiedergabe von
Wahrnehmungen ist, von unreflektierten Visionen. Aber das ist nicht zutreffend.
Die Arbeit, die geistige Welt zu erforschen, das ist meine eigentliche Tätigkeit,
und das war auch schon vor der Stigmatisation der Fall. Mit der Stigmatisation
gingen tatsächlich einher Erlebnisse von der Zeitenwende, z.B. das ChristusEreignis
und dessen historische Umstände, aber auch Wahrnehmungen von
konkreten historischen Situationen aus anderen Zeiten sind mir seither möglich,
wie aus der Zeit der Templer oder Ereignisse aus anderen Zeiten und
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Zusammenhängen. Das war eine ungeheure Erfahrung. Doch das Besondere für
mich war letztlich dabei, dass es sich für mich anhand dieser historischen
Vorgänge ergeben hat, über diese Vorgänge geistig zu forschen, also
herauszufinden durch die Mittel der Geisteswissenschaft, warum es zu genau
diesen äußeren historischen Ereignissen gekommen ist und was ihre esoterische
Bedeutung im Gesamtzusammenhang des Weltenplanes ist. Und es dürfte jedem
Anthroposophen klar sein: so etwas kann man nicht durch eine reine
Wahrnehmung herausfinden, sondern nur durch eine echte Erkenntnisarbeit.
Und das ist dieselbe Arbeit, nämlich die geistige Forschung, die ich vorher auch
gemacht habe. Das ist sehr wichtig, dass die Menschen das verstehen, weil das
in der Öffentlichkeit der immer wieder entstehende Irrtum in der Beurteilung
meiner geistigen Tätigkeit ist – jedenfalls bei denjenigen Menschen, die sich ein
Urteil bilden, ohne sich durch Lesen meiner Bücher über die Inhalte meiner
Arbeit tatsächlich informiert zu haben. Darum schreibe ich davon in jedem
Vorwort meiner [christologischen] Bücher. (Aber so etwas wird ja leider oft
überlesen oder nicht zur Kenntnis genommen.)
M G: Sie schreiben, dass Sie schon vor zehn Jahren Imagination, Inspiration
und Intuition hatten.
Ju v Ha: Ja, dass ich einen Schulungsweg geübt habe, natürlich. Aber das setzte
eben nicht erst vor zehn Jahren, also mit der Stigmatisation ein. Sondern alles,
was ich tue, beruht darauf, dass dieser Erkenntnisweg in mir seit langer Zeit lebt.
Ich habe nicht erst durch die Stigmatisation angefangen, mich mit der
Anthroposophie zu beschäftigen. Wer das glaubt, befindet sich im Irrtum.
M G: Und wie ist Ihre Forschungsmethode? Wie geht das im Praktischen? Wie
tut man das?
Ju v Ha: Die Frage ist ein wenig amüsant, verzeihen Sie, weil man im Grunde
den Menschen keine zufriedenstellende Antwort darauf geben kann. Wie „man“
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das macht, ist letzten Endes in die Freiheit des Einzelnen gestellt. Rudolf Steiner
hat schier unerschöpfliche Hinweise dafür gegeben, wie man sich auf eine
geistige Forschung vorbereitet und welche Schritte auf dem Erkenntniswege
genommen werden können und zum Teil auch müssen. Ich könnte jetzt gewisse
Übungen beschreiben, die man macht, um sich vorzubereiten auf eine geistige
Forschung. Aber den eigentlichen Erkenntnismoment, das rein geistige Denken
und Erkennen, das kann man natürlich mit intellektuellen Begriffen nicht
beschreiben. Wenn man dies könnte, bräuchte man kein übersinnliches Denken.
Dann könnte man alles Notwendige auch mit dem Alltagsdenken bewältigen.
Genau so wenig hat im Übrigen auch Rudolf Steiner den Moment beschrieben,
in dem er zu übersinnlichen Erkenntnissen gelangte. Sie werden nirgendwo eine
Ausführung von ihm darüber finden, was im letzten Augenblick dafür von
seinem Ich getan wurde und welche Prozesse von jenseits der Schwelle
lebenden geistigen Wesen notwendig waren, damit er zum Beispiel das
Geheimnis der zwei Jesusknaben lüften konnte. Man könnte sich eigentlich nur
dann wirklich über diesen eigentlichen Erkenntnisprozess jenseits der Schwelle
verständlich machen, wenn man jemanden vor sich hätte, der selber diese
geistige Tätigkeit ausübt bzw. die „chymischen“, okkulten Prozesse selbst erlebt
hat, die dabei eintreten; dann allerdings müsste man es nicht mehr beschreiben,
weil es ja von demjenigen, der es tut, selbst schon gewusst wird. – Einen
Hinweis auf dasjenige, was sich dabei abspielt, auf einer höheren, nicht
vorbereitenden Ebene findet man in Rudolf Steiners Klassenstunden für die
Mitglieder der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, vornehmlich in den
Ausführungen vom Beginn der 11. Stunde an.
Ich kann hier nur sagen, dass das geistige Forschen zunächst ja ganz konkret mit
einer Konzentrationsübung anfängt, man kann auch sagen Meditation. Das ist ja
selbstverständlich. Also, wie gesagt, mit einer „Konzentrationsübung“, begleitet
aber mit dem Focus auf eine bestimmte Problematik, die ich verfolgen möchte.
Das A und O dabei ist, dass zunächst komplett in den Hintergrund tritt das
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persönliche Interesse an dem Thema, auch wenn dies merkwürdig klingt. Darum
ist geistige Forschung für meinen Begriff sehr schwierig, weil man es erst
erreichen muss, sich einen Freiraum vom niederen Persönlichen zu schaffen. In
einem anderen Zusammenhang spricht Rudolf Steiner vom „leeren
Bewusstsein“, d.h. ich muss versuchen, erstens den Alltag auszuschalten. (Das
Telefon, das Handy, die Überlegung, was muss ich jetzt noch machen, um
soundso viel Uhr kommt dieser und jener Mensch – das muss alles
weggeschoben werden. Da das für mich am Tage sehr selten möglich ist, weil
ich einen unglaublich vollen Plan habe, tue ich diese Arbeit oft des Nachts, d.h.
natürlich, wenn ich nicht dabei schlafe.) Also das ist das, was als
Grundvoraussetzung gemacht werden muss. Des Weiteren kann nur etwas
eintreten, was man geistige Forschung nennt, und man kann nur dann darauf
hoffen, gewisse Antworten jenseits der Schwelle zu finden, wenn man in der
geistigen Tätigkeit unmittelbar drinnen steht. Wenn man vom Vorstellen, geistig
tätig zu sein wegkommt in die tatsächliche geistige Tätigkeit. Das ist in
verschiedenen Situationen möglich: man hält einen Vortrag, man gibt ein
Seminar, und ein Mensch stellt eine Frage. Dann ist es möglich, dass man aus
der Intuition heraus blitzartig die Antwort geben kann, weil man so sehr im
höheren Geisteswesen des Anderen drinnen lebt und zugleich in dem objektiven
Tatbestand, um den sich die Frage dreht, dass die Möglichkeit eintritt, die man
sonst sich nur erarbeiten muss durch die Meditation, dass man frei wird von dem
ganz Eigenen, und es fährt wie ein Blitz die Antwort in das höhere Bewusstsein
ein. Man hat die klare Durchsicht in das, was ist. – Eine phantastische
Erfahrung, weil man wie durch einen Nadelpunkt, ein ganz kleines Pünktchen
hindurch tauchen kann und erkennt, wie die gesamte Geschichte der Menschheit
aufgereiht ist wie an einem Faden, wie Eines mit dem Anderen in einer höheren
Ordnung zusammenhängt. Alles wird sichtbar wie durch ein Okular, mit einem
Mal. Und dann muss man sich nur noch sehr anstrengen, wenn man das erreicht
– egal zu welcher Gelegenheit, ob in der geführten Meditation, die man
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angestrengt tut, oder bei der Intuition, die blitzartig kommt –, dass man versucht
dasjenige, was man erkannt hat, festzuhalten und in Begriffe zu gießen, ins Wort.
Dabei geht notwendiger Weise sehr viel verloren, so dass eigentlich das, was
man dort wahrnimmt und das man in einer höheren Weise begriffen hat, in dem
Moment, wo man es aussprechen muss, nicht mehr genau das ist, was es als
lebendige Tatsache gerade noch gewesen ist. Heute ist dies vorerst nur bei den
Mantren anders. In Zukunft wird sich das aber mehr und mehr ändern, so dass
das Wort, das wir sprechen, immer mehr auch dem entspricht, was sich in es
hineinergießen will an geistiger Wahrheit.
Das ist ein durchaus schmerzhafter Prozess. Darum ist das Ringen um eine
richtige Sprache, das richtige Formulieren sehr aufwendig, aber es muss
gemacht werden, sonst kann man nicht von der geistigen Welt Zeugnis ablegen.
M G: Ja, das kann ich voll verstehen. Und wie kann man das kontrollieren oder
fühlen, ob das möglich ist?
Ju v Ha: Kontrollieren, ob das richtig ist, was man wahrnimmt oder erkannt
hat? Natürlich, in bestimmter Beziehung ist das natürlich möglich, muss
möglich sein, denn bevor ich irgendetwas in ein Buch schreibe, muss ich mir
sicher sein, dass dasjenige, was ich schreibe, so weit wie möglich der Wahrheit
entspricht – ich sagte ja: Das ist wie beim Zauberlehrling (Sie kennen das
Gedicht von Goethe?) , der die Geister, die er rief, am Ende nicht mehr
zurückgeholt werden können. Er kann nicht das zurückholen, was einmal
freigesetzt wurde; also wenn man etwas sagt oder auch aufschreibt, dann muss
man dafür gerade stehen, nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor dem
göttlichen Weltenrichter. Und die Ernsthaftigkeit ist demjenigen, der diese
Arbeit tut, natürlich bewusst. Wenn ich etwas aufschreibe, das rein geistiger
Inhalt ist, dann ist das Finden der richtigen Begriffe ungeheuer wichtig. Ich
versuche, das Beste daraus zu machen, damit ich das verantworten kann.
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Zunächst hat man die eigene Wahrnehmung geistiger Verhältnisse,
Imaginationen oder Inspirationen zu überprüfen. Also: wie verhält sich das
Geschaute zur objektiven Wirklichkeit? Da gibt es mehrere Methoden bzw.
mehrere Punkte, die zu beachten sind. Ich kann ein Beispiel nennen, das ich in
meinem Geleitwort zur Reihe „Beiträge zum Verständnis des ChristusEreignisses“
nenne: Wenn ich also beispielsweise eine Aussage machen will
über die elementarische Welt, dann reicht es nicht, wenn ich mit meinem
Bewusstsein in die elementarische Welt hineinsteige, sondern wenn ich eine
Aussage über das elementarische Reich treffen will, muss ich mich auch –
nachdem ich in dieser Sphäre wahrgenommen habe –, mit meiner rein geistigen
Gedankentätigkeit über diese Sphäre erheben. Also das heißt: Ich muss
mindestens bis zur imaginativen Stufe kommen, um über die elementarische
Welt korrekte Aussagen machen zu können. Ansonsten würde man nur das
Wahrgenommene beschreiben können, aber das wäre keine Erkenntnis.
Wahrnehmung findet innerhalb der jeweiligen Sphäre statt, z.B. im
Elementarreich, und da muss man auch hineinsteigen, wenn man das
Elementarreich kennenlernen will. Aber die Erkenntnis muss in einer der
darüber liegenden Sphären gebildet werden. Das muss man also prüfen, denn
sonst kommt man nicht zu Erkenntnissen, sondern nur zu subjektiven, also zu
empfindungsmäßigen oder intellektuellen Einschätzungen, Beurteilungen,
Meinungen oder gar Illusionen über einen Sachverhalt.
Gerade auf dem Feld des Elementarischen sind da oft Missverständnisse zu
beobachten: Nehmen wir an, ich würde mich mit einem Elementarwesen
„unterhalten“, (– ich muss gestehen, dass ich solche „Unterhaltungen“, wie sie
andere Menschen offenbar pflegen, nicht kenne, sondern meine „Unterhaltung“
mit elementarischen Wesenheiten findet in einer anderen Weise statt –), aber
nehmen wir an, ein Elementarwesen, zum Beispiel ein Wassergeist, gibt mir mit
einem Mal eine Auskunft über das okkulte Verhältnis des Judas zu dem Christus
Jesus oder über ein anderes tiefes geistiges Mysterium, welches im Prinzip
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ausschließlich die höhere spirituelle Entwicklung des Menschen betrifft, also die
Bewusstwerdung des Menschen gegenüber seiner höheren Ichheit, dann muss
mir klar sein, dass dieses Elementarwesen nur aus seiner Sicht diese Dinge
schildern kann. Das heißt aber nicht, dass diese Aussagen des Elementarwesens
zu den erwähnten Aspekten von einer übergeordneten Warte aus wahr sind, nur
weil sie von einem geistigen Wesen gemacht wurden. Denn das Elementarwesen
hat gar kein menschliches Ich! Und so kann es natürlich auch keine
wahrheitsgemäßen Aussagen über das Ich-Mysterium treffen. Das
Elementarwesen kann nur die Auswirkungen unserer Taten auf seine eigene
Lebenswelt beschreiben. Das kann sehr wertvoll für den Menschen sein. Aber
das Elementarwesen selbst wird keinen Zusammenhang in seinem Bewusstsein
herstellen können zwischen den Wirkungen unserer ich-haften Taten auf seine
Lebenssphäre. Das muss der Mensch selbst tun. Aber man darf dann nicht
verwechseln die eigenen Rückschlüsse mit den Aussagen der Elementarwesen.
M G: Wissen die Engel alles?
Ju v Ha: (lacht) Das kommt darauf an, welchen Engel man fragt. (Alle lachen)
Es gibt auch luziferische und ahrimanische Engel. Es ist durchaus interessant,
diese Wesen und ihr Wissen anzuhören. Aber wenn wir jetzt bei den guten
Engeln bleiben, dann würde ich sagen: der Angelos weiß in der Relation zum
Menschen tatsächlich alles. Wenn man aber noch weiter hinaufschaut, die
menschliche Perspektive verlässt, dann hat natürlich auch der Angelos eine
gewisse „Position“ und auch Aufgabe innerhalb der geistigen Welt. Er mag
vielleicht ebenso viel „wissen“ wie die nächst höhere Hierarchie, insofern er
eine Einsicht in die Weisheit höherer Geister hat und diese Weisheit aus seinem
Ich heraus bejahen kann. Aber er kann vorerst nur auf einer niedrigeren Stufe als
die höhere Hierarchie arbeiten, weil er selbst noch eine Entwicklung
durchmacht, so dass die Gebiete, die die höheren Hierarchien abdecken, nicht in
sein Blickfeld kommen. Das heißt, er hat eine bestimmte Aufgabe, (die
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allerdings aus der Perspektive des Menschen so hoch ist, dass der Mensch
seinen Angelos oft mit Gott verwechselt), nämlich sich um die Individualität des
einzelnen Menschen zu bemühen, während die übergeordnete Hierarchie dann
sozusagen wieder für eine Gruppe von Menschen da ist und dementsprechend
mehr oder noch erweitert „weiß“. Da gibt es die Volksgeister usw., und darum
gibt es „Perspektivausschnitte“ des Wissens. Trotzdem leben sie in der geistigen
Realität unmittelbar darinnen und wissen deswegen natürlich alles, wenn man so
will.
Wenn man als Mensch in der geistigen Welt bewusst wird, weiß man auch
„alles“, jeder von uns tut das, jeder jede Nacht. Es ist nur die Frage, ob wir das
in unserem Bewusstsein bewahren können. Wenn wir Anteil nehmen an den
Gedanken der geistigen Wesen, sind wir alle weise – so wie auch der Angelos
einsichtigen Anteil nimmt an den Weltgedanken der Kyriotetes oder anderer
Geister. Wir wissen dann genauso viel wie die höchsten Hierarchien, in dem
Moment, wo wir mit unserem Ich ganz in der geistigen Welt sind. Aber wirklich
aus sich selbst heraus weise zu sein, so wie eine Gottheit, eine Engelhierarchie,
also die Weisheit hervorzubringen, das ist eben etwas anderes, das der Mensch
sich noch zu erarbeiten hat, so wie es sich sein Angelos vor ihm erarbeiten
musste. Zur Zeit nimmt der Mensch im Schlaf „passiven“ Anteil an der Weisheit
anderer, höherer Wesen und ist durch sie weise. Aber er muss weise werden
durch ein allmähliches Bewusstseinserwachen in der geistigen Welt. Für diesen
Werdegang kann er sich an den Engeln orientieren.
M G: Und wie viel beschäftigen Sie sich mit theologischen Dingen,
christologischen Themen, und warum ist das?
Ju v Ha: Weil das die Antwort geben kann auf alle unsere Probleme (lacht), und
weil, wenn man versteht, dass in der Menschheit etwas eingetreten ist, was
jenseits einer religiösen Überzeugung etwas an dem Menschenwesen verändert
hat bis ins Physische hinein, nämlich das Christus-Ereignis (als über-
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konfessionelle Tatsache), wenn man beginnt, das zu verstehen, dann hat man
eine Handhabe, die Welt anders zu gestalten. Und ich glaube, die Welt hat das
nötig. Ich glaube, da liegt der Angelpunkt, weil das, was der Mensch als
Wesenheit wirklich ist, das ist das Abbild dessen, was wir „Christus“ nennen,
das wahre Ich sozusagen. Also wie Paulus sagt: „Nicht Ich (das Niedere),
sondern der Christus in mir.“ Wenn ich lerne, das zu entdecken, habe ich
verstanden, was der Christus ist. Das klingt sehr einfach, aber die
Selbsterkenntnis ist sehr schwer. Aber darum meine ich: wir brauchen nicht
immer von dem Christus zu sprechen, Seinen Namen von morgens bis abends
im Munde zu führen. Aber die Aktivität, die man entfalten kann dadurch, dass
das Mysterium von Golgatha als geistig-seelisch-physisch veränderndes Faktum
eingetreten ist und dass man sich dieser Tatsache bewusst wird und dieses
„Geschenk“ ergreift, diese Aktivität, die kann etwas in der Welt zurechtrücken.
Mich interessiert die Quelle. Wo kommt das her? Warum ist ein Mensch
eigenverantwortlich? Warum ist es unsinnig, wenn DER SPIEGEL einen
führenden Wissenschaftler zitiert, der behauptet: Wir sind nur eine Anordnung,
eine Zufallslotterie von Genen? Wenn das wahr wäre und wir uns konsequent
danach richten würden, dann wäre unsere ganze Rechtsprechung vollkommen
überflüssig, denn ich kann schließlich nichts dafür, wenn ich unmoralische
Handlungen begehe, es sind ja meine Gene, die mich steuern. Wenn wir alle so
denken würden, und uns alle so verhalten würden, dann wäre die Welt schon
längst zerstört. Aber so ist es ja zum Glück nicht. Doch leider müssen wir
beobachten, dass es in der Gegenwart Tendenzen gibt, die sich auch in Zukunft
immer stärker durchsetzen werden, die den Menschen diesen Unsinn glauben
lassen wollen. Ich möchte mit meiner Arbeit dieser Tendenz entgegentreten. Es
gibt eine Quelle für moralisches Handeln. Und diese Quelle kann der Mensch im
eigenen Innern auffinden, er verspürt ja eine Verantwortung, ein Gewissen, das
ihn aufruft, moralisch zu denken und zu handeln. Das Gewissen hängt
zusammen mit dieser Quelle. Und wenn man da herangeht, hat man
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Möglichkeiten, sich besser zu verhalten. Darauf kommt es ja an für unsere
geistige Entwicklung. Der geistige Schulungsweg ist ja nicht dazu da, um selbst
zu profitieren, sondern damit durch uns andere profitieren.
M G: Und was ist die physisch vorhandene Wirksamkeit des Christus?
Ju v Ha: Oh, das fängt schon dabei an, dass die Menschen in der Lage sind
(jedenfalls potentiell), heute einander anders zu hören, wahrzunehmen, dass sie
sich auf eine neue Art wirklich zu verstehen können. Dieser Fortschritt, der auf
die Bewusstseinsseelenentwicklung zurückgeht, macht sich bis ins physische
hinein kenntlich. Der Leib wird ja durch spirituelles Bewusstsein umgewandelt.
Und am stärksten wird das an dem „ältesten“ unserer Organe sichtbar, nämlich
am Gehirn. Ich bin sicher: Wenn es möglich wäre, heute einen gegenwärtigen
Menschen und einen Menschen mit einer Konstitution, wie sie vor 1000 oder
2000 Jahren war, in eine Scannerröhre zu schieben, dann würde man
beobachten, dass verschiedene Areale bei diesen beiden unterschiedlichen
Menschen zum Einsatz kommen, wenn diese Menschen denken. Allein die
Intellektualität, die man zum Erfassen anthroposophischer Gedanken, höherer
Gedanken braucht – denn das ist der erste Schritt auf dem Weg zu einem
Denken, das das Gehirn irgendwann nicht mehr benötigt –, allein die
Möglichkeit, bestimmte Zusammenhänge über die Welt denken zu können, die
hat heute der Mensch in einem völlig anderen Maße als der frühere Mensch. Das
muss der Mensch aber nutzen, um weiter zu kommen. Er darf im rein
Intellektualistischen nicht stehenbleiben. Aber die Möglichkeit, jetzt aus diesem
Verstandesdenken den Sprung zu einem höheren Denken zu vollziehen, das
wäre eben dem früheren Menschen – auch physisch – gar nicht möglich
gewesen. Das ist eine Auswirkung der Christus-Tat. Und ich bin überzeugt, dass
Forscher eines Tages an der Untersuchung physischer Gehirne werden
beobachten können, dass Menschen, die das höhere Denken praktizieren, das
immer mehr absterbende Gehirn gar nicht benutzen. Das wird man messen
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können. Genau genommen, werden wir immer fähiger, übersinnliche Gedanken
zu denken, je weiter unser sinnlicher Gedankenapparat zerfällt.
Aber es gibt viele, viele verschiedene Beispiele für die Wirksamkeit des
Christus bis ins Physische. Ich habe vorhin die Andeutungen gemacht über die
Veränderung der Fortpflanzung im Menschen. Das ist ein Werdeprozess, der
Mensch war nicht immer physisch so, wie er jetzt ist. Und in Zukunft wird sich
die Fortpflanzung ganz anders vollziehen als heute. Das Mysterium von
Golgatha hat bewirkt, dass der Mensch frei werden kann von der Abhängigkeit
seines Leibes, und dass er nicht nur der Herr werden kann über seine Seele,
sondern auch über das Werkzeug des physischen Leibes. Und wenn er das eines
Tages ist oder wird, langsam, langsam, dann kann er irgendwann auch den
physischen Leib ganz ablegen. Anthroposophen wissen, das wird spätestens
notwendig, wenn wir auf dem sogenannten Jupiter wieder als Menschenwesen
erscheinen wollen, denn dann gibt es keine mineralische, keine materielle Erde
mehr. Dann müssen wir ein anderes Werkzeug geschaffen haben, das die
Funktion dieses materiellen physischen Leibes übernehmen kann – ein
Werkzeug, das zwar physisch ist, aber nicht materiell ist. Wir werden ausbilden,
und haben gegenwärtig schon damit begonnen, das von Rudolf Steiner
sogenannte „Phantom“ des physischen Leibes, welches auch Paulus in seinem 1.
Korintherbrief (15, 45f.) beschreibt.
Auch gibt es, als ein anderes Beispiel der Wirksamkeit des Christus bis ins
Physisch-Materielle hinein, eine sehr spannende Arbeit von einem Physiker,
Prof. Peter Gschwind, (in Buchform erschienen im Verlag am Goetheanum vor
ca. fünf Jahren: Die Ich-Struktur der Materie). Dieser Physiker hat die Materie
untersucht und hat festgestellt, dass die materiellen Substanzen (ich kann Ihnen
nicht erklären, wie das geht), seit dem Zeitenwendepunkt eine andere chemische
Substantialität angenommen hat. Das ist eine sehr beachtete Arbeit. Es gibt nur
wenige Menschen, die diese wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse
fachlich genau nachvollziehen können. Aber diese Arbeit ist auch außerhalb der
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anthroposophischen Kreise beachtet und ernst genommen worden. Es wird darin
beschrieben eigentlich ein wissenschaftlicher Beweis für die Veränderung der
Erdenstruktur seit dem Ereignis von Golgatha. – Und nun kann man sich schon
denken, dass dies auch mit dem Menschen zusammenhängt, denn die Erde ist
das Feld der Entwicklung für den Menschen zu einem höheren geistigen Wesen.
Man sagt ja aus der Anthroposophie heraus, die Erde ist schon im Niedergang
begriffen, sklerotisiert, baut sich ab. Das ist auch in der Tat der Fall. Jeder
Naturwissenschaftler, der auf diesem Gebiet forscht, wird bestätigen können,
dass die Erneuerungsprozesse der Erde abnehmen, genauso, wie die Sonne ihre
Energie verbraucht, wird auch die Erde irgendwann aufhören zu existieren in der
Art, wie wir sie zu kennen glauben oder heute noch erleben. Und was das
Mysterium von Golgatha schafft, ist, dass in diese Materie ein Keim gelegt wird,
der die Transformation der Materie bewirken kann. Nicht etwas, das mit der
Materie verschwindet, sondern ein Keim zu etwas Übersubstantiellem, was
dennoch ganz hart an der Grenze zur Substantialität ist. Das nennen wir das
Ätherische. Und dieses Ätherische ist geistiges, das heißt unsterbliches Leben.
Aus diesem „Stoff“ wird die Erde einmal in ferner Zukunft bestehen, und diesen
Zustand der zukünftigen Erde nennt der Okkultist den „Jupiter“.
M G: Das ist auch schon eine Antwort auf meine nächste Frage. Wie wichtig ist
die Versorgung des physischen Leibes?
Ju v Ha: Ausgesprochen wichtig, weil der physische Leib unser Werkzeug ist
zur höheren Erkenntnisbildung. Es ist eben nicht allein wichtig, sich um den
Geist zu kümmern, sondern in gewisser Hinsicht auch um die Pflege des
materiellen Körpers, um den Leib, weil ich ausschließlich Erkenntnisbildung
und Reifeprozesse, alle Entwicklung nur während des Erdenlebens erlangen
kann. Und wenn ich den Leib als Werkzeug dazu nicht erhalte, dann kann ich
diese geistigen Erkenntnisse niemals gewinnen, dann werde ich sie nicht haben.
Das heißt nicht, dass man keine höheren Erkenntnisse gewinnen kann, wenn
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man an einer physischen Erkrankung leidet wie Krebs oder wenn man ein
gebrochenes Bein hat, wenn also der physische Leib beschädigt ist, sondern ich
muss sehen, dass ich einen Beitrag leiste zur Erhaltung, zur ätherischen
Belebung meines Leibes zum Schutz und zur Aufrechterhaltung des Lebens,
weil der das kostbare Feld meiner spirituellen Entwicklung ist. Und ich muss
dafür sorgen, dass ich mir einen Leib schaffe, der mein Ich auch in Zukunft
aufnehmen kann, wenn die materielle Erde und die materiellen Leiber weiter in
einen Zerfall hineingehen.
M G: Ich möchte auch etwas fragen über die Zusammenhänge zwischen
Menschen. Sie haben über Schwierigkeiten zwischen Anthroposophen
gesprochen, weil manchmal die Dinge zu persönlich genommen werden. Na gut,
das ist menschliche Realität, aber man hat das individuell Persönliche, und man
hat das Soziale, das Gemeinschaftliche. Wie kann man das in der Waage halten?
Das ist eine Schwierigkeit, wenn Menschen immer etwas mit einem Urteil
verbinden, was man meint und denkt. Aber man sieht, dass so etwas störend ist
in der Gemeinschaft. Was ist geschehen, was kann die Gemeinschaft dafür tun,
dass das nicht so extrem wird?
Ju v Ha: Ich glaube, da müssen wir genau an diese Ich-Kraft des Menschen
heran, weil jeder nur individuell seinen Beitrag leisten kann. Ich kann mich nicht
darauf verlassen, dass der andere dieses oder jenes für mich macht; oder anders:
wenn ich sage, ich erwarte von dir, dass du tolerant mir gegenübertrittst, dann
muss ich dir dasselbe zur Verfügung stellen. Im Vaterunser kommt das sehr
schön zur Geltung: Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren
Schuldigern. Also, was ich von anderen erwarte, muss ich selbst erst einmal tun.
Der einzelne Mensch muss versuchen, das zu leisten, und das Einzige nach
meiner Erfahrung, was funktioniert ist, eben zunächst mal sich zurückhalten mit
dem eigenen Urteilen, sondern dass man erstmal etwas wahrnimmt, man kann
besser sagen: für wahr nimmt, was an einen heran tritt, was da ist. Ich kann mich
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darüber aufregen, dass dort draußen auf dem Hof ein Baum steht. Dann sage ich:
Warum steht er da? Ich will nicht, dass er da steht! – Aber meine persönliche
Haltung zu dem Baum ändert nichts daran, dass er da steht. Wenn ich sage, ich
bin dagegen, dass er da steht, oder es ist unberechtigt, dass er da steht, dann sagt
der Baum durch sein schlichtes Da-Sein zu mir: Das ist mir ganz egal, ob du das
so findest. Es ist eine schlichte Tatsache, dass ich hier stehe. Und diese Tatsache
ist unabhängig von deiner Meinung, deiner Sicht, deiner Haltung. Damit will ich
sagen, wir müssen uns anstrengen, mit den Realitäten umzugehen und davon
wegzukommen, sofort eine persönliche Meinung zu entwickeln und diese
persönliche Meinung mit der Realität zu verwechseln oder gar für eine
geisteswissenschaftlich fundierte Erkenntnis zu halten. Wenn wir nur darauf aus
sind, auf unserer persönlichen Meinung zu beharren, tragen wir zu einer
Eskalation bei, nicht aber zu einer gemeinschaftlichen Erkenntnisbildung.
Leider muss man feststellen, dass Kindern so etwas oft besser gelingt als uns
Anthroposophen. Die Kinder gucken sich wenigstens dabei in die Augen, wenn
sie sich streiten, auch tragen sie ihre Konflikte unmittelbar in der Begegnung mit
ihrem Gegenüber aus. Ich musste erfahren, dass nicht einmal das „bei uns“ mehr
möglich ist, denn da wird die direkte Begegnung, die ein Erkenntnis-Gespräch,
ja überhaupt eine Wahrnehmung des Mitmenschen eben nun einmal erfordert,
gar nicht mehr hergestellt. Man vermeidet ja geradezu Begegnungen, um sich in
seiner Meinung, die man liebgewonnen hat, bloß nicht verunsichern zu lassen.
M G: Was kann man mit dem Einzelmenschen tun, wenn man in eine
Gemeinschaft eintritt, wo alte Probleme auftreten, die noch immer nicht
abgearbeitet sind? Was muss man tun?
Ju v Ha: Man muss erst mal untersuchen, in welcher Beziehung man als
Einzelmensch zu dieser Gemeinschaft, in die man da eintritt, steht: Es gibt ja nur
zwei Möglichkeiten: Entweder ich merke, ich habe selbst einen karmischen
Zusammenhang mit dieser Gruppe so, dass das auch meine Problematik ist, das
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spürt man irgendwann; oder man sagt sich: ich interessiere mich zwar für die
Anthroposophie, aber ich merke, dass ich biographisch nichts mit dieser
zerstrittenen Gemeinschaft, die da Anthroposophie meint zu betreiben, zu tun
habe. Das sind ja zwei unterschiedliche Ausgangspunkte. Und der erste Mensch
wird sich deshalb anders dazu stellen als der zweite. Wenn ich als
Ausgangspunkt die erste dieser beiden Situationen habe, macht das die Sache
schon schwierig, weil ich mehr dazu leisten muss, um eine objektive Gesinnung
zu entwickeln, wenn ich selbst karmisch involviert bin. Wenn man sich selbst
also dann in so einer karmischen Gruppe eingebettet findet, in der vieles nicht
aufgearbeitet worden ist, dann würde ich empfehlen, sich miteinander einem
Thema, einer Aufgabe zu widmen, welche alle gleichermaßen bewegt und somit
auch verbindet. Im vorliegenden Fall ist das ja im Grunde ganz naheliegend:
Das verbindende Element heißt Anthroposophie. Ich denke, das ist doch das
Wesentliche, worum es uns allen gleichermaßen gehen sollte, die wir doch alle
Anthroposophie in der Welt vorwärts bringen wollen. Das ist doch das schönste
verbindende Element, das man sich überhaupt nur denken kann! Und wenn man
dieses Ziel im Auge behält, wird man schnell bemerken, dass es wirklich schade
darum wäre, seine Zeit damit zu vergeuden, sich in irgendwelchen
Wortgefechten oder Meinungsverschiedenheiten zu verwickeln usw. oder dem
anderen umständlich zu „beweisen“, dass er eine bestimmte Evangelienstelle
oder Aussage Rudolf Steiners falsch interpretiert. Das hält uns doch nur davon
ab, das Wesentliche zu tun. Und man kommt auch schnell zu der Erkenntnis,
dass das Eine, Große nur erreicht werden kann, wenn viele Menschen etwas
dazu beitragen, und zwar auf ihre individuelle Art. Sonst könnte niemals ein
Ganzes entstehen, es bliebe alles einseitig, nur Bruchstückhaftes, wenn alle
Menschen dasselbe beisteuern würden.
Wenn man also merkt, dass man eine persönliche karmische Beziehung zu jener
Gruppe von Menschen hat, die in gravierende karmische Probleme verstrickt ist,
dann sollte man zuerst prüfen, in wieweit man selbst in der Lage ist, die Dinge
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objektiv zu sehen oder in wieweit man doch selber so verstrickt ist, dass man
unter Umständen befangen ist und sich eingestehen muss: in Wahrheit will ich
gar nicht zu einer Einigung kommen. Das muss man in einer stillen Stunde
prüfen. Denn es ist ja heute nicht eine Frage des Könnens, sondern eine Frage
des Wollens. Ich muss bei mir selbst zuerst und nicht bei dem Andern prüfen:
welche Motive, welche Ursachen liegen vor? Ich selbst stehe in einer
Verantwortung. Die kann ich nicht an anderen delegieren. Will ich einen
nützlichen, heilsamen Beitrag für die Gemeinschaft leisten, muss ich mich zuerst
zur Selbsterkenntnis aufraffen, ich muss in voller Ehrlichkeit meine Motive
überprüfen wollen.
Wenn jemand aber empfindet: ich interessiere mich wirklich nur für
Anthroposophie und habe keine Beziehung zu den karmischen Verhältnissen
innerhalb der anthroposophischen Gemeinschaft, dann ist vielleicht auch hier die
größte Hilfe, die man dieser Gruppe von außen geben kann, dass man diese
Gruppe darin unterstützt, den Focus wieder auf die eigentliche Arbeit zu lenken,
auf das Wesentliche, nämlich wieder Anthroposophie in den Mittelpunkt zu
rücken. – Das wäre ja wirklich wunderschön, wenn wir endlich einmal damit
beginnen könnten, Anthroposophie zu treiben, anstatt ständig das „Wesen“
Anthroposophie durch unser allzu Persönliches zu verletzen.
M G: Und was werden Sie in den nächsten zehn Jahren machen?
Ju v Ha: Hoffentlich Dinge dazu lernen (Es wird gelacht).
M G: Sie sind Objekt einer Kontroverse.
Ju v Ha: Ja, das ist aber nur mittelbar mein Problem. Denn es zeigt sich oft,
dass es um meine Person in Wirklichkeit gar nicht geht. Die meisten meiner
Kritiker kennen mich ja persönlich gar nicht, haben mich nie gesehen oder
gehört, und viele geben auch offen zu, dass sie es nicht nötig haben, meine
Schriften zu lesen, um sich über mich ein Urteil anzueignen
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M G: Wie gehen Sie damit um?
Ju v Ha: Mit Geduld. Das ist ein Feld, auf dem ich viel lernen durfte. Es ist
sehr interessant, sich selber dabei zu beobachten. Zuerst ist man erschüttert und
verletzt und man versucht, sich zu rechtfertigen. Dann kommt eine Phase, in der
man merkt: das hat mit dir ganz persönlich gar nicht viel zu tun, denn die Leute
kennen dich ja gar nicht. Also da muss irgendetwas anderes vorliegen. Diese
großen Emotionen, die da freigesetzt werden in manchen Menschen, die
beziehen sich gar nicht auf dich als Person, sondern vielleicht vielmehr auf das,
was du sagst oder wofür du dich engagierst. Dann kommt eine nächste Phase.
Da hat man die Hoffnung, dass man in einem zwischenmenschlichen Austausch
auf der Ebene des gesunden Menschenverstandes die Probleme auflösen kann.
Denn man glaubt zunächst, dass es sich tatsächlich um Erkenntnisfragen oder
Erkenntnisdifferenzen handelt. Dann muss man jedoch feststellen, dass das
meistens gar nicht die Ursache der Emotionen ist. Denn es wird ein
Erkenntnisgespräch verweigert. Wer aber tatsächlich an der Klärung inhaltlicher
Belange interessiert ist, würde einem Erkenntnisgespräch nicht aus dem Wege
gehen. Man lernt also an diesem Punkt, dass es Menschen gibt, die sagen: Ich
will mich gar nicht austauschen! Oder: du hast von vornherein Unrecht, deshalb
brauche ich mich mit dir nicht zu unterhalten. Das ist die zweite Phase, da ist
man wieder recht enttäuscht, dass man auf der sachlichen Ebene nicht
weiterkommt. Aber man lernt zu verstehen, dass man diesen Menschen, die sich
dafür entschieden haben, sich nicht austauschen zu wollen, auch ihre Freiheit
lassen muss. Durch diese Enttäuschung musste ich durch. (Das deutsche Wort
ist sehr treffend dafür: Ent-Täuschung. Denn man hat sich eigentlich selber
getäuscht, nämlich in seiner Erwartungshaltung dem Anderen gegenüber.) Und
dann kommt die dritte Phase, in der bin ich jetzt gerade, ich weiß nicht, wie
viele noch kommen; die dritte Phase ist: versuche auf den Gebieten, wo es
notwendig ist, dem Unwahren das Wahre entgegenzustellen, aber ansonsten
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halte dich nicht auf mit den Kontroversen, denn dann wäre das passiert, was
eigentlich die Widersachermächte beabsichtigten, dass nämlich nichts
Konstruktives, nichts Belebendes mehr entstehen kann. Es kommt die
wohltuende und beruhigende Erkenntnis, der liebevolle Ruf aus der geistigen
Welt: prüfe dich immer und prüfe die Vorwürfe, die man dir macht. Aber
vergiss nicht, deine Arbeit zu machen! Und das tue ich. Denn letzten Endes gilt
doch das, was Paulus sagt: „Es ist mir nicht wichtig, dass ich von euch gerichtet
werde oder von irgendeinem menschlichen Gericht. Auch richte ich mich selbst
nicht… Vielmehr ist es der Herr, der mich richtet.“ Und so stelle ich meine
Arbeit in die Welt, indem ich mich vor Gott verantworte. Ich gebe meine Arbeit
hin zur freien Verfügung. Wer sie annehmen möchte – bitte, gerne!; und wer
nicht, der nicht.
M G: Mit wem möchten Sie Austausch halten?
Ju v Ha: Möglichst mit allen Menschen. Ich bin kein Mensch, der Angst hat
vor einem Austausch. Der Grund, warum ich nie ein Interview gegeben habe,
war einfach, dass ich fand, dass um meine Person zu viel „hype“ gemacht wird,
und ich wollte das nicht noch befeuern durch Interviews, weil wirklich mein
Anliegen die anthroposophische Arbeit ist und die Themen, die ich in meinen
Büchern aufgreife. Und ich weiß, dass die Interviewpartner leider am wenigsten
der Inhalt meiner Bücher interessiert, sondern das scheinbar Sensationelle
meines Schicksalsganges. Und gerade das wird mir ja von den Kritikern zum
Vorwurf gemacht. Es hat ja schon geheißen: Judith von Halle dürfte gar keine
öffentliche anthroposophische Arbeit machen, weil sie durch ihre Stigmatisation
unfrei wirkt. – Also, mein Anliegen sind die Themen, die ich in meinen Büchern
wiedergebe, wie zum Beispiel „Die Templer“ und „Der Abstieg in die
Erdenschichten“ oder wie die Bücher heißen, sie alle haben nichts zu tun mit
Judith von Halle persönlich. Das ist nicht das, worum es mir geht. Im Gegenteil,
ich hatte früher ein gemütliches Leben, und man kann sich schon für das
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persönliche Glück etwas anderes wünschen als einen solchen Schicksalsgang
und die Ereiferung der Menschen über diesen Schicksalsgang, so wie ich sie
über die letzten 10 Jahre leider erleben musste, aber ich kommuniziere gern mit
Menschen. Ich habe mich nie einem Gespräch entzogen, wenn jemand eine
ehrliche Anfrage hatte. Es ist ein großer Gewinn, Menschen kennenzulernen,
jeder Mensch ist auf seine Weise wunderbar, mit seinen eigenen biographischen
Erfahrungen – ganz unglaubliche Sachen kann man erfahren und davon lernen,
da wird man demütig.
M G: Wie halten Sie das aus?
Ju v Ha: Weil ich die Unterstützung einer festen Wurzel habe, und das ist die
geistige Welt. Meine Kindheit war auch nicht immer leicht. Doch es war
letztlich recht, solch eine Kindheit durchgemacht zu haben, weil ich mir einen
kleinen Schutzpanzer angelegt habe für die Erfahrungen, die ich in späteren
Jahren, nämlich innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft durchmachen
musste. Durch diese feste Wurzel, die im Geistigen liegt, bin ich auch nie
vollkommen aus der Bahn geworfen worden, so dass ich in eine
Verzweiflungssituation gekommen wäre, in der ich hätte sagen müssen: Ich
kann nicht mehr weiter. In den Tiefpunkten des Lebens kommt es darauf an, ob
wir uns auf das Licht besinnen können, das von jenseits dieses Lebens
ausstrahlt.
M G: Können Sie noch mal Ihre Themen benennen?
Ju v Ha: Tja, die Themen kommen manchmal in dem Moment, wo man in die
geistige Welt hineinschaut und einem etwas begegnet, das sich in der heutigen
Welt Gehör verschaffen will. Man muss nur darauf hinlauschen. Oder man
schaut in die irdische Welt hinein und möchte die Ursachen für gewisse
Umstände erforschen. So ist z.B. das Buch über die Templer entstanden, weil es
ein siebenhundertjähriges Jubiläum gab, und ich habe angefangen, mich mit den
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spirituellen Umständen der Beseitigung der Templer und ihrer fortdauernden
Verleumdung zu beschäftigen.
Ein Thema, das ich gerade für die Gegenwart für äußerst wichtig halte, ist das
Thema der geistigen Gegenkräfte. Diese wirken ja deshalb so intensiv in der
Welt, weil sie in dem einzelnen Menschen ansetzen. Es läuft hier wieder auf die
Selbsterkenntnis hinaus, wenn man etwas gegen das Überhandnehmen solcher
Kräfte in der Welt unternehmen will. So habe ich ein Buch über die
Erdschichten geschrieben, das hat mit diesem Thema zu tun.
Aber mein eigentliches Anliegen – das geht ja aus meiner Arbeit hervor – ist das
Christus-Mysterium, denn ich lebe in der Gewissheit, dass in der Erkenntnis des
Christus-Mysteriums der Quell unserer Heilung liegt. Diese Tatsache kann man
schon allein denkerisch nachvollziehen. Man muss kein Eingeweihter dazu sein,
um einzusehen, dass dies der Fall ist. Man muss allerdings den Willen haben,
sich mit diesem Mysterium aus echtem Herzensantrieb zu befassen.
M G: Mit welchen Menschen arbeiten Sie zusammen?
Ju v Ha: Ich bin in einer innerlichen Weise mit vielen verschiedenen Menschen
verbunden und erfahre durch sie immense Unterstützung, sowohl auf meinem
persönlichen Weg als auch auf dem überpersönlichen Feld der geistigen Arbeit.
Ansonsten kann man sagen: das Schicksal stellt einem in der Regel die
Menschen zur Seite, mit denen sich etwas für die geistige Arbeit und für das
Fortkommen des Christus-Impulses in der Welt erreichen lässt. Nicht immer
wählt man sich diese Menschen, die ja an unterschiedlichen Orten leben, mit
seinem bewussten Alltagsverstand aus. Ich hätte mir z.B. nie vorstellen können
vor zehn Jahren, dass ich einmal in Dornach leben würde, ein Großstadtkind in
einem kleinen „Nest“. Doch offenbar habe ich eine starke Verbindung zum
Schicksal und Werdegang der Dornacher anthroposophischen Gemeinschaft
oder zumindest zur Anthroposophie, die dort leben will, und das hat mich nach
Dornach gebracht.
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M G: Wie sind Sie dazu gekommen?
Ju v Ha: Das war so eine Schicksalssituation. Im Jahr 2006 bin ich sehr krank
geworden, und der Rat der Ärzte war, mit meiner Lungenerkrankung in die
Berge zu gehen, also mich nicht im Berliner Flachland aufzuhalten. Dann hat ein
sehr lieber Mensch, das ist der Verleger Joseph Morel vom Verlag für
Anthroposophie damals gesagt: du kommst zu uns nach Hause, wir wohnen
oberhalb von Dornach, auf etwa 700 m Höhe, das ist nicht Davos, aber es ist
sicher besser als Berlin. Dort habe ich viel Zeit gehabt, mich mit geistigen
Dingen zu beschäftigen, weil ich nichts anderes tun konnte und tun musste. Als
ich langsam wieder gesund wurde, hat es sich ergeben, dass in Dornach ein
Raum frei wurde, eine Schreinerei, und der Eigentümer hat gefragt: Willst du
dort nicht eine Initiative aufbauen? Du kannst das Gebäude mieten. Diese
Chance habe ich als einen Aufruf empfunden. In Berlin war das leider nicht
mehr möglich, ich hätte es gern in Berlin gemacht, doch durch die dort
herrschenden Umstände konnte ich das Rudolf Steiner Haus in diesem Sinne
nicht mehr nutzen. So war ich auf einmal in Dornach. Aber ich habe natürlich
auch eine innere Verbundenheit zu dem Ort, das habe ich deutlich gespürt. Dorn
Ach! Ein bittersüßes Verhältnis zu dem Ort. Also ich bin einerseits sehr gern in
Dornach und bei den dort lebenden und arbeitenden Menschen, aber andererseits
ist das die Höhle des Löwen, aber das musste offenbar so sein. Und das musste
ich eben auch einsehen: Nicht mit jedem Menschen, mit dem man eine
karmische Verbindung oder sogar eine spirituelle Aufgabe hat, kann man etwas
Gemeinsames erreichen. Denn der Mensch ist ein freies Wesen. Er hat sein
Karma und seine karmischen Möglichkeiten. Aber ob er sie ergreift, ist seine
eigene Entscheidung. So hat es sich leider ergeben, dass ich zwar gerne mit
gewissen Menschen zusammengearbeitet hätte, weil ich sicher bin, dass es von
der geistigen Welt aus gewünscht ist, aber dass sich eine solche Arbeit nicht
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verwirklichen lässt. Das ist vielleicht der größte Schmerz, den ich in Bezug auf
die geistige Arbeit in der Gegenwart empfinde.
M G: Was war die Kontroverse in Berlin?
Ju v Ha: Dass die Stigmatisation aufgetreten ist und Menschen nicht damit
umgehen konnten, dass der Geist bis hinein in die physische Leiblichkeit
wirksam werden kann und will. In der Theorie lässt sich schmerzfrei über
allerlei Dinge philosophieren, die der Geist vermag. Aber wenn es konkret wird,
zeigt sich, wie weit die Menschen den Geist ernst nehmen. So wurde mir von
den Vertretern der deutschen Landesgesellschaft gesagt (wortwörtlich): „Das
hat mit Anthroposophie nichts zu tun. Machen Sie das wieder weg!“
Nicht wahr, das ist das Beispiel von dem Baum. Wie es schon im ersten
Mysteriendrama heißt: Ein Tatbestand liegt vor. Es geht nicht darum, den Baum
umzuhauen, sondern es geht darum, zu ergründen, warum er da steht und was
man durch seine Existenz für die eigene Entwicklung gewinnen kann. Ist es
nicht eine großartige Chance für unser aller Erkenntnisentwicklung, dass solch
ein Phänomen in der anthroposophischen Bewegung auftritt? Anthroposophie ist
ja gerade dazu da, vermeintlich unerklärliche Phänomene zu erforschen, damit
sie eines Tages erklärlich werden. Aber eine solche Erforschung lässt sich nicht
mit Angst, Vorbehalten, Vorurteilen durchführen, denn das verstellt den
objektiven Blick. Diese anthroposophische Haltung hatten aber die
„Verantwortlichen“ leider nicht. So wurde ich fristlos gekündigt in meinem
Arbeitsverhältnis im Rudolf Steiner Haus, in dem ich neben meiner eigentlichen
beruflichen Tätigkeit als Architektin das Sekretariat betreut habe. Aber auch die
ganze Belegschaft, die mit mir in Verbindung gestanden hatte, an erster Stelle
der Gründer des Rudolf Steiner Hauses, Peter Tradowsky, wurde fristlos
entlassen, und zwar ohne Begründung. Wen die Vorgänge im Detail
interessieren, kann den Bericht der sogenannten „Urteilsfindungskommission“
einsehen, der später erstellt wurde. Das Bedauerlichste war, dass die Mitglieder,
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die dies alles nicht wollten, von den Vorständen bevormundet wurden und
letztlich dadurch das reiche spirituelle Leben im Rudolf Steiner Haus Berlin
weitgehend ausgelöscht worden ist. Das wirkt sich bis heute aus.
M G: Sie arbeiten noch immer als Architektin? Und welche Gebäude haben Sie
gebaut?
Ju v Ha: Ja, das letzte war die Konzeption eines Wohn- und Therapiehauses für
Demenzerkrankten. Das ist dann leider übernommen worden von einem
holländischen Architekten, aufgrund eines Wechsels im Vorstand bei den
Bauherren. Vier Jahre hatte ich dafür gearbeitet. Dann hat man mich vor die Tür
gesetzt, weil ein Mensch im Vorstand ein „Problem“ mit mir hatte. Deshalb ist
die Arbeit von meiner Seite aus nur bis zum Bauantrag gekommen, es war aber
eigentlich für mich das schönste Projekt, weil es eine besondere inhaltliche
Thematik einschloss. Ich habe in diesem Zusammenhang meine Erkenntnisse
zur Demenz-Erkrankung in Buchform veröffentlicht. Jetzt erstellen wir gerade
für den ehemaligen Besitzer von TEGUT, das ist ein Lebensmittel-Hersteller
und Vertrieb in Deutschland, Wolfgang Gutberlet, ein Gebäude in Fulda, ein
Gebäudekomplex mit drei verschiedenen Gebäuden und einer schönen
Freiraumgestaltung mit einer Bach- und Teichlandschaft sowie plastischen
Kunstwerken. Ein Bürokomplex und eine Lernwerkstatt, wo Seminare über
Unternehmenskultur usw. gegeben werden sollen.
M G: Wie kombinieren Sie die zwei Tätigkeiten?
Ju v Ha: Natürlich müssen mein Mann und ich auf Mitarbeiter zurückgreifen.
Denn die Architektur ist ein full-time-job, ebenso wie die Seminar- und
Vortragsarbeit in Dornach, die anthroposophische Forschungsarbeit und die
Schriftstellerei. Um es abzukürzen: Man langweilt sich nicht. Es muss jeden Tag
immer wieder aufs Neue errungen werden, eine Waage herzustellen.
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M G: Haben Sie noch etwas, was Sie sagen möchten?
Ju v Ha: Das letzte Wort? Da muss ich an Dr. Benediktus Hardorp denken,
einen wunderbaren, weisen Menschen, dem die anthroposophische Sache viel zu
verdanken hat, was vielen Menschen nicht bewusst ist. Er hat auf diese Frage
einmal mit einem einfachen aber tiefgründigen Satz geantwortet: Macht eure
Sache gut! – Ich finde, das ist eine sehr weise Antwort. Sie stammt, wie gesagt
nicht von mir, und ich kann sie nicht für mich in Anspruch nehmen, weil ich
noch keine 80 oder 90 jährige Lebenserfahrung habe. Doch sie leuchtet mir sehr
ein, und ich versuche, in diesem Sinne, meine Sache gut zu machen. Diesen Rat
kann ich weitergeben.
M G: Vielen Dank.